IM REICH DER
WEISSSCHATTEN

Sonja Dolzer, November 2021

In völliger Unschuld ruhen Chloe und Psyche am Ufer des anthrazit schimmernden Sees. Das kristalline Eis überzieht die perfekt sitzenden Korsetts der Protagonistinnen und zeichnen ein sinnliches Bild der Herzensfreundinnen. Eiskristalle, die meisterhaft geschliffener Diamanten gleichen, funkeln einzigartig ausdrucksstark. Die filigranen Formationen in Weiß glitzern atemberaubend und verzaubern mit ihrer partiellen Transparenz. Diese magische Brillanz spiegelt eindrucksvoll das Naturschöne des Eises, einem der Höhepunkte des Winters, einer Zeit der Magie, der Einkehr, des Rückzugs, der Stille und der Kontemplation.

Chloe und Psyche lieben diese idyllische Ruhe, den Rückzug der Natur, den aufkeimenden Gleichklang ihrer Seelen, das Loslassen und Verarbeiten des eigenen Selbst. Auf ihrem Weg ins Reich des Unbewussten betritt Chloes Geliebter Daphnis überraschend die Bildfläche und verzaubert sie aufs Neue. Wieder einmal träumt sie von seinen paradiesischen Gärten, den Wonnen des Glücks und der Spiritualität dieser magischen Orte. Einer Hommage gleichend, schwärmt sie vom weißen Pavillon, von den mächtigen, in Kreisform angeordneten Toskana Säulenzypressen, den rhythmisch versetzten immergrünen Buchsbaumkugeln, vom blütenweißen Narzissenmeer, den majestätischen Irisarten aus Spanien, Holland und Sibirien, den tiefroten bis pink-weißen Mohnblumen, den himmlischen Schlüsselblumen, den betörend duftenden Veilchen und den zarten weißen Schneeglöckchen. Das ganz große Drama performen indes zwei japanische Diven im Gartenreich. Die Kirschblüte wetteifert mit der majestätischen Magnolie unermüdlich um die Gunst der Flanierenden. Berauscht von all dieser makellosen Schönheit entschwinden beide von dieser Welt. Tief verwurzelt schlummern sie während dieser kalten Tage mit einem Gefühl tiefster Zufriedenheit, die von einer zarten Melancholie getragen wird. Umhüllt von einer wunderbar schützenden Eisschicht genießen die beiden fortan den winterlichen Rückzug.

DIESE IDYLLISCHE RUHE,
DER RÜCKZUG DER NATUR

Nach unzähligen Wochen des Insichgehens fühlen beide Frauen intuitiv die Zeichen der Veränderung. Ihre Sinne beginnen langsam die aufkeimenden, seismografisch noch fast nicht spürbaren Veränderungen der Natur, zu antizipieren. Eine innere Unruhe befällt sie, die sich – von den meisten anderen noch nahezu unbemerkt – zielstrebig auszubreiten beginnt.

Die sinnlich Gestaltenden erahnen die noch unberührte Zeitgestalt des Frühlings, die blitzartig in beider Bewusstsein rückt. Gemeinsam betreten sie das entstehende Raum-Zeit Gebilde und sinnieren über die unterschiedlichen Rollen ihrer unermesslichen Schöpferkraft.

IM REICH DER WEISSSCHATTEN - Andrea Langensiepen Stories

Neben diesem, von vielen heiß ersehnten wunderbaren jahreszeitlichen Wechsel, der immerwährend mit einer unbeschreiblich faszinierenden botanischen Explosion einhergeht, beobachtet Psyche seit geraumer Zeit etwas wirklich Besorgniserregendes – den global aufkeimenden Konflikt von Mutter Erde und den radikalen Aufstand botanischer Kulturen. Psyches grünes Herz ist zutiefst erschüttert. Wohin steuert die Menschheit, wenn lebensnotwendige Substrate fehlen, Naturräume reduziert oder zerstört werden und die grüne Lunge nur noch kraftlos Luft spendet?

DIE ZAUBERHAFTE MAGIE DES EINZIGARTIGEN AUGENBLICKS

Ihre Sehnsucht und Liebe zur Natur mobilisiert ihre neu aufgetankten, unglaublichen Kraftreserven. Euphorisch beginnt sie mit den botanischen Revolutionären zu sympathisieren, überlegt, wie sie diese wegweisende Bewegung forcieren und begleiten kann. Immer deutlicher erkennt sie die Unwägbarkeiten der Natur und den daraus resultierenden Zündstoff des bereits ins Wanken geratenen Systems. Dieser fehlende Gleichklang lässt sie in Rage geraten und beflügelt zugleich ihre Fantasie. Wortgewaltig beschreibt sie ihre Absicht, alles dafür zu tun, um eine für alle lebenswerte Welt zu schaffen. Dieser emotionale Gefühlsausbruch und die unvorhersehbare radikale Art passen so eigentlich gar nicht zu Psyche. Erschrocken, aber dennoch besonnen, erfasst Chloe die sphärischen Störungen der archaischen Pflanzenwelt mit großer Deutlichkeit. Auch sie vernimmt eine Unzahl ihr unbekannter Geräusche und mahnender Stimmen. Chloes emotionale Intelligenz und ihr starkes Selbstbewusstsein verleihen ihr enorme Kraft im Umgang mit dieser prekären Situation. Seit jeher begegnet die emphatische Persönlichkeit der Schöpfung mit unvergleichlicher Demut, ist enorm wachsam, achtsam und behutsam der Erde gegenüber. Unvermittelt huscht Chloe ein leises Lächeln über ihr blasses Gesicht. Sie erkennt die Kostbarkeit dieses magischen Moments, der ihr die Vielschichtigkeit der Thematik unvermittelt ins Bewusstsein rückt.
Doch wie sollte es ihr gelingen, Psyche wieder in weniger stürmische Gefilde zu manövrieren? Wie könnten sie gemeinsam etwas für Natur und Menschheit tun? Sich konstruktiv einbringen und Lösungsanreize setzen? Kurz – eine neue sinnstiftende Saat säen, die sowohl das Überleben sichert und gleichzeitig eine Bereicherung des Lebensraums mittels Kunst schafft?

Am Ende des ersten Monats des Jahres versinken die zarten und gleichzeitig starken Strahlgestalten erneut in eine tiefe Kontemplation. Die blütenweiße, filigrane, samtene Schneedecke umhüllt die weiblichen Wesen in kaum wahrnehmbaren Weißnuancen. Im Reich der Weißschatten entladen sich stakkatoartig beider Körper – die zauberhafte Magie des einzigartigen Augenblicks beginnt sich langsam zu entfalten.

Im glitzernden Weiß erstrahlt das junge, von makelloser Schönheit geprägte Antlitz der streitbaren Psyche. Ihre Züge wirken nach diesem magischen Moment augenblicklich entspannt. Die vorherige Unruhe löst sich und die geplante Revolte erscheint plötzlich als völlig inadäquates Instrument. Instinktiv baut sie auf die schöpferische Kraft ihrer Vertrauten, die durch ihre Kunst, durch ihr Schaffen Enormes zu bewegen weiß. Chloe widmet sich seit Anbeginn mit all ihren Arbeiten dem „Faszinosum Kunst“, gibt allen Werken „Seele“, entschlüsselt meisterhaft die Unwägbarkeiten der Natur, sieht Kunst als immer währenden Dialog. Ihre „Bilder mit Seele“ – geboren aus ihrer Seele – versetzen alles in vibrierende Schwingungen. Bewegung entsteht. Das Weiß flieht manchmal mehr manchmal weniger. Manchmal schnell, manchmal mit großer Bedächtigkeit. Die Farben der Natur erobern mit aller Kraft den Bildraum und erschaffen einen spektakulären Bildteppich. Tiefes Rot trifft auf leuchtendes Gelb und warmes Burgund. Gelb verkehrt mit Grün und Braun. Weiß nähert sich kokett dem Grau und wird von sattem Grün und Schwarz tangiert. Mint, Pink, Kobalt und Apricot setzen klitzekleine, jedoch umso aufsehenerregende Akzente. Die magischen Farbakkorde entfachen beim Betrachter eine neue Art der Sinnlichkeit in der Malerei, etwas auf den ersten Blick vordergründig Diametrales. Sie verstehen es gleichzeitig ein Gefühl der Freiheit und des Bereitseins authentisch zu transportieren.

Psyche liebt Chloes Kunst seit Anbeginn. Vieles blieb ihr jedoch in der Vergangenheit verborgen, obwohl sie die Werke kannte. Erst dieser von Kälte und Eis und dem Aufstand botanischer Kulturen geprägte Winter eröffnet ihr neue Horizonte und schafft damit ein völlig neues Bewusstsein für Chloes künstlerische Arbeit. Psyche erkennt vice versa aber auch, dass ihr Engagement für die Natur vielfältige Impulse auf die künstlerische Arbeit Chloes überträgt, einen wichtigen kontextualen Beitrag leistet und dieses maßgeblich befruchtet. Beide Frauen genießen den gemeinsam verbrachten, geruhsamen Winter, der ein wahres künstlerisches Feue werk entfacht und den göttlichen Lebensraum Natur neu interpretiert und inszeniert. Unzählige Bildepisoden lassen ein holistisches großes Ganzes entstehen. Die „Unruhe unter Blütenweiß“ erblickt das Licht der Welt.

DER GÖTTLICHE LEBENSRAUM
NATUR NEU INTERPRETIERT

Ganz im klassischen Sinne Theodor W. Adornos verschmilzt hier Naturschönes mit zeigenössischen Kunstschönem, wird zur Quintessenz jeglichen Lebens und drängt auf Ewigkeit.

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